Vom Klapperstorch zum Pegasus

Aufklärung und sexuelle Kreativität

Wie viele Bücher muss man gelesen haben, bevor man eins schreiben kann? Kann man ein Kunstwerk schaffen, ohne je Zeichnen oder Malen gelernt zu haben? Was weiß man über sich selbst, wenn man sonst nichts weiß?
Selbst wer über einen wachen Verstand, offene Augen und ein außergewöhnliches Maß an Kreativität verfügt, wird das Rad neu erfinden müssen und an unnötigen Hindernissen hängen bleiben, wenn er nicht auf das von vielen Generationen mühsam gesammelte Wissen aufbaut. Und dieses Wissen ist nirgendwo so hart erkämpft wie auf dem Gebiet der Sexualität. Über Jahrhunderte blockierten brutale und subtile Methoden von Verdunkelung und Desinformation, dass wir aus den Fehlern unserer Vorfahren lernen, und noch immer muss jeder Pubertierende unter Peinlichkeiten und Schmerzen seine sexuelle Identität finden.

Oder wissen die Jungs und Mädchen von heute nicht schon alles? Im Zeitalter der Handy-Pornos haben die Bienen und die Blumen endgültig ausgedient. Der Kumpel vom Pausenhof war sogar schon mal mit einer im Bett. Andererseits – Fachgespräche wie das folgende führen Zwölfjähriger wohl auch heute noch:

„Du hast ja überhaupt keine Ahnung“, sagte er, „ein Mädchenloch heißt nicht Pimmel, es ist eine Möse, sie bumsen damit“, und dann erzählte er mir alles, was er wusste. Ich hatte eine vage Ahnung, dass ein Pimmel und eine Möse nicht nur fürs Pinkeln gemacht waren, konnte aber nicht recht daran glauben. Fred behandelte mich in dieser Angelegenheit als Einfaltspinsel. „Sie machen damit Kinder“, sagte Fred. „Gehen wir hoch und fragen die alte Amme, woher die Kinder kommen, und sie wird sagen ‚aus dem Petersilienbeet‘, aber es ist gelogen.“ Wir gingen und fragten sie beiläufig. Sie antwortete: „das Petersilienbeet“ und lachte. Meine Amme hatte mir das gleiche erzählt, nachdem ich sie über das letzte Kind meiner Mutter gefragt hatte. „Sind sie nicht Lügner?“, bemerkte Fred. „Es kommt aus ihren Mösen, und es wird beim Bumsen gemacht.“

Schon bald darauf sollte der Ich-Erzähler an Dienstmädchen, Cousinen und jungen Arbeiterinnen reichlich Erfahrungen sammeln – über die er später unter dem Pseudonym „Walter“ ausführlich Bericht erstattete.
Gespräche wie dieses, einsame Selbsterforschung und erste, noch halb unschuldige Liebeständeleien waren über Jahrhunderte die einzigen Quellen für das Wissen der Heranwachsenden über Sex – und natürlich die Halbwahrheiten und vertraulichen Ermahnungen der Mütter.
Einen größeren Unsinn können die Mädchen und Jungen dabei auch nicht gelernt haben als die erwachsenen Leser sexualwissenschaftlicher Traktate im aufgeklärten 19. Jahrhundert. Deren gelehrte Autoren sprachen beispielsweise der Frau die Fähigkeit zu sexuellem Empfinden ab oder stritten gegen das Laster, das „verheerendere Folgen für die Menschheit als Pest, Kriege, die Pocken“ haben sollte: die Masturbation. Bekanntlich schwächt sie den Körper, lähmt das Gedächtnis, verzehrt das Rückgrat, zerstört den Charakter und führt unausweichlich zu Siechtum oder Selbstmord.
Ertappte Selbstbeflecker mussten mit harten Strafen rechnen. Besonders hartnäckige Fälle kurierten Ärzte durch Fesselung oder gar (bei Mädchen) durch Verstümmelung der Genitalien. Noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts experimentierte man mit Keuschheitsgürteln für Heranwachsende. Es war ja zu ihrem Besten.
Reste dieses Aberglaubens, dem sogar Rousseau und Kant anhingen, hielten sich bis in die jüngere Vergangenheit. Noch in meiner kleinstädtischen siebziger-Jahre-Kindheit habe ich gehört, wie man allzu blassen Jugendlichen ein Übermaß an einsamen Höhepunkten bescheinigte. Und auch wenn keiner mehr so recht an die Legenden vom Rückenmarksschwund oder den „tausend Schuss“ des männlichen Liebespfeils glaubte – gekannt hat sie jeder.

Die Wissenschaft vom Sex

Um 1900 wird das Klima für Erotik langsam freundlicher. Dafür treffen ganz verschiedene Quellen zusammen: In der Frauen- und der Jugendbewegung organisieren sich diejenigen, die am meisten unter der Sexualnorm zu leiden haben. Sogar die vom Strafgesetzbuch verfolgten Lesben und Schwulen wagen sich aus der Deckung hervor. Das Interesse am Seelenleben bringt die Psychoanalyse hervor, das am Körper befördert Sport und Freikörperkultur. Ein Übriges tut das Anwachsen der sündhaften Großstädte. Die Erfindung des nahtlosen Gummikondoms kommt genau zur rechten Zeit: 1919 stellt Fromms 150.000 Präser pro Tag her.
Für Aufsehen sorgte der schwule Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der „Einstein des Sex“. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wirkte er in dem Spielfilm „Anders als die Anderen“ mit, wo er gegen das Verbot der Homosexualität plädierte. Im Kielwasser solcher Aufklärungsfilme schwammen Stummfilmreißer mit sprechenden Titeln wie „Hyänen der Lust“, bis die 1920 neu eingeführte Filmzensur der kleinen Sexwelle ein Ende bereitete. Und so vermerkt das um 1930 entstandene „Bilderlexikon der Erotik“:

Aufklärungsfilme, Filme, die sich die Aufhebung der Zensur nach dem Kriege zunutze machten und unter der Vorgabe, geschlechtlich aufzuklären, in Wahrheit nur die Erotik in möglichst grober Form zur Darstellung brachten. Ein Teil dieser A. hatte allerdings nur pikante Titel, während sie in Wirklichkeit fast harmlos waren.

Diese Vorwürfe kann man dem holländischen Frauenarzt Theo van de Velde nicht machen. Sein Buch „Die vollkommene Ehe“ (1927) bringt mit ungewöhnlicher Offenheit jede sexuelle Regung, sei sie körperlich oder seelisch, zur Sprache. Noch der heutige Leser staunt über die Fülle an Kenntnissen. Der umfangreiche Erotikratgeber wendet sich an Erwachsene mit sexuellen Erfahrungen.
Das Buch wurde zum Bestseller, obwohl sein Autor alles tat, um das Thema von absatzsteigernden Schlüpfrigkeiten zu befreien. Der an Beipackzetteln geschulte Stil wirkt bisweilen unfreiwillig komisch, etwa wenn Van de Velde in Tabellenform die Liebesstellungen katalogisiert – und zwar auf Lateinisch, als „Tabula positionum“.
Ähnliche Gelehrsamkeit zeigt das oben erwähnte „Bilderlexikon der Erotik“. Von 1928 bis 1931 trugen siebzig Sexualwissenschaftler Medizinisches, Kultur- und Sittengeschichtliches in Wort und Bild für dieses Großprojekt zusammen.

Rück- und Fortschritte

Nur wenige Jahre später drehte der Nationalsozialismus die Uhren zurück. Während Alfred Kinsey 20.000 Amerikaner nach ihren sexuellen Erfahrungen befragte und der in die USA emigrierte, bis heute umstrittene Psychoanalytiker Wilhelm Reich die sexuelle Revolution ausrief, drohte in Deutschland Homosexuellen und Prostituierten das KZ. Erotische Literatur, aber auch die Arbeiten der jungen Sexualwissenschaft fielen unter die Zensur – darunter auch die oben zitierte Enzyklopädie. Dass es auch im Dritten Reich Edelbordelle und offenbar sogar eine Pornofilmindustrie gegeben hat, ist nur eine skurrile Fußnote der Geschichte.
Als der Alptraum vorbei war und die Soldaten allmählich heimkehrten, kehrten Liebe und Leben in die zerbombten Städte und geplünderten Landschaften zurück. Allerdings wollten nicht alle Trümmerfrauen und Frontheimkehrer zur Stunde null gleich Nachwuchs zeugen. So wurden Verhütungsbroschüren ein Verkaufsrenner – was einer geschäftstüchtigen jungen Heimatvertriebenen namens Beate Uhse eine beispiellose Karriere ermöglichte.
Der Wirtschaftswunder brachte den Deutschen bald wieder materiellen Wohlstand. Damit stieg auch das Interesse an einem besseren Sexleben.
Anders als es wohl vor allem viele Frauen damals erlebten, pries neu aufblühende Ratgeberliteratur einen für beide Seiten erfüllenden Sex, der nicht nur dem männlichen Druckablassen und der Fortpflanzung diente.
An die Offenheit von Hirschfeld, Kinsey oder Eustace Chesser, dessen warmherziges, tolerantes Buch den schönen Titel „Liebe ohne Furcht“ trägt, kommen die deutschen Ärzte und Laien der 50er-Jahre aber nicht heran. Zwischen all ihren medizinisch wertvollen oder einfühlsamen, erfahrenen Ratschlägen schimmert manchmal noch der militärische Geist des Dritten Reichs durch.
So wollen die Ratgeber für Wirtschaftswundersex beispielsweise immer noch nicht recht Frieden mit der Onanie schließen. Zwar hören wir den Arzt gelassen und oft sogar mit einem kleinen Augenzwinkern über diese „jugendlichen Verirrungen“ sprechen – nach dem Tenor: „Haben wir nicht alle mal ein paar Flecken in die Bettdecke gemacht? Wenn die Halbstarken erst verheiratet sind, finden sie schon ein anderes Ventil für ihre Energien.“

Fast alle Bücher weisen darauf hin, dass die Fingerübungen körperlich unschädlich sind – offenbar waren die Gespenster des 19. Jahrhunderts noch nicht gänzlich aus den Betten vertrieben. Manche warnen auch davor, den jungen Leuten übertriebene Schuldgefühle einzureden, weisen aber zugleich darauf hin, dass Geisteskranke besonders häufig onanieren, und dass zwar nicht der Körper, aber doch die Seele von allzu häufigen Fünf-gegen-Einen-Ringkämpfe unter der Bettdecke Schaden nehme. Eine Perversion oder eine Sünde ist es nicht (wenigstens solange keine Erwachsenen oder gar Verheiratete dem einsamen Laster frönen) – aber doch eine Verirrung.
„Natürlich müssen die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte die jungen Menschen auf das Schädliche solchen Tuns hinweisen“, findet Dr. Holm („Mach mich glücklich!“, 1959). Fast unisono gaben die Aufklärer damals den Rat: kühle Zimmer, harte Matratze, nach dem Aufwachen sofort raus aus den Federn, kalt waschen, fades Essen, viel Sport. Man möchte kein Kind von derart aufgeklärten Eltern gewesen sein.
Einen ähnlichen Stellenwert hat die Homosexualität. Wenn die Jungens in der Untertertia in der Gemeinschaftsdusche mal die falschen Stellen zu lange einseifen – kein Grund zur Panik, liebe Eltern und Lehrer. Wer aber Jahre nach Internat und Zeltlager immer noch einen Hang zum falschen Geschlecht zeigt, darf auch in den 60er-Jahren mit wenig mehr als Mitleid rechnen: In diesem Fall „liegt eine krankhafte Störung vor“, konstatiert Dr. Rinard („Unter vier Augen“, 1949), und man sieht die Sorgenfalten auf der ärztlichen Stirn. Rinard wundert sich auch, dass der Staat die „weibliche Urningsliebe“ (ein altes Wort für Homosexualität) im Gegensatz zur männlichen nicht bestraft.
Noch 1967 schwadroniert DDR-Aufklärer Dr. Bretschneider („Sexuell aufklären – rechtzeitig und richtig!“) über „abnormes homosexuelles Verhalten“. Trost findet der von Gewissensnot gepeinigte Homosexuelle vielleicht bei Dr. Holm, denn dieser weiß: „Homosexualität kann geheilt werden!“
Das Ideal der Jungfräulichkeit bis zur Ehe halten die Autoren in Ehren. Allzu streng hielten es die Aufklärer damit nicht. So will Dr. Glantz („Intime Fragen des Liebes- und Ehelebens“, 1959) diese „‚Vorehen‘ nicht zu scharf verurteilen“. Ganz anders dagegen häufige Partnerwechsel, die „meistens sehr einseitig sexuell betont“ sind und zur Abstumpfung führen.
Ab Ende der 50er-Jahre schleicht sich in einige Ratgeber ein komischer Beigeschmack. „Über 100 FOTOS und Zeichnungen“ verspricht „Mach mich glücklich“, und „Ist Lieben Sünde?“ (1958, „mit etwa 100 Abbildungen“) lockt mit einer verführerischen Badenixe auf dem Titel.
„Von allen Seiten stürmt ‚Erotik‘ auf uns ein. Sie leuchtet von Kinoplakaten, verwirrt uns in Anzeigen und schreit von den Titelblättern der Zeitschriften“, ächzt der geplagte Autor – und zeigt den von so viel „Erotik“ heimgesuchten Lesern auf der nächsten Fotoseite zwanzig abschreckende Beispiele dieser Liederlichkeit.
Gegen „natürliche Freude am gesunden, schönen Körper“ ist dagegen nichts zu sagen. „Am Strand, bei der Hausarbeit oder beim Sport ist die Jugend heute oft leicht bekleidet …“, kommentiert Dr. Holm eine Serie von Atelierfotos junger Damen, um auf der folgenden Seite fortzufahren: „wirkt aber dank ihrer natürlichen Anmut und Gelöstheit niemals aufreizend.“ Dem Reinen ist eben alles rein.

Eine sexuelle Revolution?

1961 brachte Schering die Antibabypille auf den Markt. In Verbindung mit Selbstbewusstsein und Experimentierfreude der jungen Generation wurde daraus tatsächlich eine Art sexuelle Revolution.
An vorderster Front stand dabei Oswalt Kolle. Dafür wurde er heftig angefeindet, und merkwürdigerweise haftet seinem Namen auch heute noch etwas von den damaligen Voyeurismus-Vorwürfen an. Trotz seines kommerziellen Gespürs sind seine Bücher und Filme aber von lauteren Absichten getragen. Ob man das auch für die 140 Millionen Zuschauer sagen kann, die Ende der 60er-Jahre Filme wie „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ anschauten, steht auf einem anderen Blatt.
Kolle kann sich dabei auf die Vorarbeiten von Kinsey und seinen Erben berufen, das Forscherehepaar Masters & Johnson. Ein liebevolles Miteinander gewinnt an Bedeutung, die Ratgeber wollen den Lesern das Gefühl nehmen, sie seien pervers, wenn ihre Wünsche und Vorstellungen von der gefühlten Norm abweichen. So kehrt allmählich Glasnost in die Schlafzimmer ein.
Kolles Filme wie auch der Aufklärungsstreifen „Helga“, 1967 vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegeben, waren die Vorboten einer beispiellosen Sexwelle. Deren populärste Filmreihe, die ungezählten „Schulmädchen-Reports“, griff mit ihrem pseudodokumentarischen Stil den Gestus der Aufklärungsfilme auf – nur dass die Stimme aus dem Off vor wohliger Empörung bebte, während sich der Zuschauer an den jungen Nackedeis erfreute. Wer mehr sehen wollte, griff zu skandinavischer Importware.
1968, auf dem Höhepunkt des Wandels, rangen sich die Kultusminister dazu durch, Sexualkundeunterricht an den Schulen einzuführen. Natürlich gaben sich viele Lehrpläne und Arbeitshilfen Mühe, das Thema möglichst langweilig zu gestalten. Dass die wirklich schwierigen Dinge außerhalb von Labien und Samenblase passierten, mussten die Schüler nach wie vor am eigenen Leib erfahren, denn der Unterrichtsstoff beschränkte sich auf den medizinisch-technischen Aspekt der Sache. Dem Bundesverfassungsgericht ging das immer noch zu weit: Sein Urteil, der Sexualkundeunterricht habe sittlich zu wirken und sich auf wertfreie Wissensvermittlung zu beschränken, bedeutete 1977 zeitweise praktisch das Ende der Sexualkunde an den Schulen.
Die Fragen, die Teenagern auf der Seele brennen, stellten sie ohnehin woanders. Hans, 13, aus Ostfriesland möchte gern eine Klassenkameradin „erobern“, weiß aber nicht wie. Hannelore, 17, sorgt sich, ob die Pille unfruchtbar macht. Und die 13-jährige Österreicherin Regine ist einem Exhibitionisten begegnet – gut, dass Dr. Jochen Sommer Rat weiß. Als Bildzeitung für Teenager muss man die Bravo nicht mögen, aber ihr Kummerkasten hat seit 1969 Millionen Heranwachsenden im Dschungel der Sexualität geholfen.

Ausweitung der Sexfront

Jugendliche hatten Sex, das ließ sich nicht mehr verbieten und wegdiskutieren. Neue Ratgeberbücher sprachen gezielt junge Leute an – aber keines so radikal wie Günter Amendts „Sexfront“ (1970). Mit Witz, Spott und völlig ohne Scham gibt Amendt den Nachwuchs-Hedonisten Tipps und illustriert sie durch offenherzige Fotos, Cartoons und Comics. Der freiheitliche Geist des Buches ist auch heute noch dazu geeignet zu provozieren.
Eines seiner kontroversen Themen ist sexuelles Empfinden in der Kindheit – immer noch ein kleines Tabu, das nicht ins Bild der unschuldigen Kinder passen will. In den Worten Amendts „haben die kleinen unschuldigen Lieben ihr liebes kleines Sexualleben, suckeln wonnevoll an den Warzen der Mutterbrust, kraulen sich ihren Pimmel“ – und das auch noch ganz schamlos, während die Eltern peinlich berührt wegschauen.
Statt Kinderfragen übers Kinderkriegen mit einem „Das wirst du schon rechtzeitig erfahren“ zu beantworten, geben sich manche Eltern und Autoren seit den 70er-Jahren Mühe, das schwierige Thema altersgerecht zu erklären. Per Knudsens „Wie Vater und Mutter ein Kind bekommen“ war hier wegbereitend, und Janoschs „Mutter sag, wer macht die Kinder?“ (1992) erstaunt durch seinen frechen, sinnenfrohen Umgang mit kindlichen Schwärmereien und ersten Küssen auf dem Schulweg.
Seit den 70er-Jahren setzt sich der Schlingerkurs zwischen sexuellen Freiräumen und Zurückhaltung (oder Einengung?) fort. Der Ausbruch von Aids, 1982 erstmals in Deutschland diagnostiziert, gab den Moralisten Auftrieb. Immerhin erinnerte er die Schulen an ihren Bildungsauftrag und belebte den Sexualkundeunterricht neu. Seit den 80er-Jahren suchen Frauen wie die Sexualwissenschaftlerin Shere Hite mit mehr Selbstbewusstsein nach weiblichen Wegen zur Lust. In den Neunzigern erlebten in den USA christliche Keuschheitsideen eine unerwartete Renaissance. Dagegen wundert sich über SM-Praktiken und Latex-Fetischismus im Abendprogramm heute keiner mehr.

Wahrheiten und Halbwahrheiten

Beim Blick auf die sexuellen Normen von gestern und vorgestern fühlt man sich rasch in der überlegenen Position des Wissenden, Aufgeklärten. Dabei sind unsere eigenen sexuellen Normen keine objektiven Wahrheiten. Fast allen stecken noch Reste der christlich-bürgerlichen Moral in den Knochen.
Nicht alle Wege zur sexuellen Selbstfindung sind gleich gut gepflastert: So tun sich heutige Gesellschaften immer noch schwer mit Homosexualität, während die Antike sie völlig respektierte. Vielehe ist für uns ein Skandal, in manchen islamischen Ländern hat man keine Probleme damit. Reiche Römer hielten sich Lustknaben, für uns ist Kindsmissbrauch eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechen. Wer sich dagegen in Antike oder Mittelalter beim Sex mit Tieren erwischen ließ, hatte meist sein Leben verwirkt – heute sähe man angewidert darüber hinweg. Noch um 1800 unterschieden Recht und Gesellschaft nur unscharf zwischen Vergewaltigung und Verführung.
Die sexuelle Revolution vor vier Jahrzehnten hinterfragte auch die Vorstellungen von sexueller Treue und Zweierbeziehungen. Bis heute ist es bei einzelnen Experimenten geblieben. Ob es ein menschliches Bedürfnis ist, dass sich zwei Menschen auf viele Jahre zusammentun und erotische Eskapaden bestrafen, oder ob spätere Generationen das so albern finden wie wir Jungfräulichkeit bis zur Ehe – darüber kann man nur spekulieren.
Die sexuelle Aufklärung und ihre Freiräume für eigene Forschungen sind ein Privileg der westlichen Gesellschaften. Noch heute arrangieren die Familien mehr als die Hälfte aller Ehen weltweit, noch heute verstümmeln wohlmeinende Verwandte jeden Tag die Genitalien von 6000 Mädchen, noch heute müssen Schwule und untreue Ehefrauen in einigen Ländern um ihr Leben fürchten. In den USA wird pro Jahr jedes dreizehnte Mädchen zwischen 15 und 20 schwanger. Kein Witz: In Südostasien gibt es Ehepaare, die sich wegen Unfruchtbarkeit behandeln lassen – dabei haben sie, wie es so schön auf Beamtendeutsch heißt, die Ehe noch gar nicht vollzogen.
Hierzulande dagegen ist Wissen über Sex leicht zu finden. Was früheren Generationen kaum zugänglich war, vermitteln pädagogisch wertvolle Bücher und sogar der Schulunterricht. 14-jährige haben keine Probleme mehr, an Nahaufnahmen klaffender Schamlippen und Videos mit sexuellen Höchstleistungen zu kommen. Aber hilft ihnen das?
Freier Zugang zu Informationen bedeutet auch freien Zugang zu falschen Informationen. Jeder fünfte Jugendliche meint, HIV-Positiven sähe man ihre Infektion an. Nach Jahren von Rückgang und Stagnation steigen die Ansteckungsraten wieder. Auch im reichen, aufgeklärten Deutschland brechen jährlich 7500 minderjährige Mädchen eine Schwangerschaft ab, in die sie überwiegend durch Unwissenheit geraten sind. Manchmal hat das auch mit sozialem Abstieg und Verrohung zu tun: Eine Abtreibung bezahlt die Krankenkasse, die Pille ist teuer.
Den sexuellen Horizont zu erweitern ist aber kein Privileg von Teenagern, sondern eine lebenslange, immer wieder herausfordernde Aufgabe. Den eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden, setzt die Kreativität, Selbstbewusstsein und Einfühlungsvermögen voraus. Das nötige Wissen, um diese Freiräume überhaupt zu erkennen, ist zum Glück mittlerweile leicht zu bekommen, zum Beispiel hier – man muss es nur nutzen.

Vielen Dank an Herbert Braun vom www.feigenblatt-magazin.de