"Mehr Faust als Goethe" von Gabriele Illing

„Mehr Faust als Goethe“
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on Gabriele Illing

Scusi. Di niente, was gibt es da schon zu entschuldigen. Ich fuhr durch Italien, wo sonst erfährt man diese Begegnungen der besonderen Art. Über Italiener wird ja viel gesagt. Mir verschlug er nur die Sprache. Ja, eine Italienreise. Und mein Begleiter? Ein Unbekannter, aber bestimmt mehr Faust als Goethe. Kurz vor Genua stand er auf, ging ans Fenster und zog die Scheibe herunter. Er beugte sich weit hinaus und seine Haare flatterten im Wind. Wir spielten in keinem Werbespot, obwohl er wirklich gut gebaut war, und ich gerne mit ihm Hand in Hand ins Meer hinausgelaufen wäre, bis uns die große Woge verschlungen und für immer vereint hätte.

Zwei Stunden schon im selben Abteil, vis a vis, an unsere Sitze gefesselt, schwitzten wir und behielten uns im Visier. Wir sprachen ohne Worte, dabei so intensiv und heiß wie die Mittagssonne, aber auch leise wie die Fangarme eines Oktopus. Die Juliwärme öffnete unsere Herzen für das Leben, brannte, entflammte und heizte alles auf. Wie ein kleines Mädchen spähte ich unter sein Hemd, das ein bißchen nach oben gerutscht war. Um seinen Nabelpunkt wuchsen ein paar zarte Härchen. Ich würde nur ganz leicht mit den Fingerkuppen darüber streichen, stellte ich mir vor, während sich die hellblaue Jeans ziemlich nah vor meinen Augen an die Wand drückte.

Der feste Stoff spannte um den kräftigen Po wie die Muskulatur einer Wildkatze vor dem Absprung. Schau nicht hin, greif zu, flüsterte es in mir mit gespaltener Zunge. Warum zum Teufel führte hier niemand die Regie, gab einfach vor, was als nächstes zu geschehen hätte, und wie ich die Geister wieder loswerden könnte, die ich rief. Ich spürte die Hormone, wie sie wild durchs Blut sausten und war weit davon entfernt, ihm lange und sanft in die Augen zu blicken, bis er mich schließlich an sich ziehen und zaghaft küssen würde. Die Szene hier lief weniger im Kopf ab, als mir lieb war, und das schwer zu merkende Zauberwort meiner Rolle in diesem Stück hieß zweifellos Beherrschung. Er lächelte mich nicht gerade schüchtern von der Seite an und zeigte dabei sein kräftiges Gebiß, das etwas von der Vitalität eines Raubtieres wiedergab.

So wie er mich ansah, wusste er, was vorging. Mir schoss augenblicklich das Blut in den Kopf. Sollte ich aufspringen, weglaufen und in Panik das Abteil verlassen, das einfach zu eng wurde für zwei, bei denen die Chemie so hundertprozentig stimmte, dass die chemische Reaktion jeden Moment eintreten konnte. In einer langen Kurve verlor er den Halt und stolperte auf meinen Schoß. Ich hielt ihn fest und berührte wie zufällig mit den Fingerkuppen ganz leicht seinen Nabel. “ E pericoloso spogersi.“ sagte ich. Es ist verboten, sich aus dem Fenster zu lehnen.