„Biana und die Räuber“ von Raymond Zoller

Eine Räubergeschichte mit ungewissem Ausgang

Sicher hätte Krückh einen Ausweg gefunden. Denn Krückh fand immer einen Ausweg. Wenn er wollte. Doch diesmal wollte er nicht.
„Was soll ich,“ dachte Krückh, „einen Ausweg finden? Wenn es ohne Ausweg doch aber sicher viel interessanter ist?“
Die Räuber fesselten Biana und steckten sie in einen Sack.
Als die Räuber sie packten, hatte sie kurz und überrascht „Hey“ geschrien; und während man sie fesselte rief sie „Was macht ihr denn da!“. Wie sie dann in den Sack gesteckt wurde, wand sie sich etwas und sagte „Ihr seid verrückt“.

Hätte sie richtig geschrien und sich gewehrt, so hätte Krückh sicher etwas getan. Denn er hat ein weiches Herz und hilft immer, wenn er jemanden leiden sieht. Doch hatte er nicht den Eindruck, als ob Biana unter dem, was man mit ihr anstellte, besonders litte; sicherlich hätte sie sonst lauter geschrien und sich auch gewehrt und vielleicht gar mit ihren langen Fingernägeln den Leuten die Gesichter zerkratzt. Krückh erinnerte sich, daß sie vor zehn Jahren leidenschaftlich und gekonnt jeden kratzte, den sie wollte; obwohl sie damals noch keine so langen Fingernägel hatte. Ihn selbst hat sie zwar nie gekratzt; denn er war damals schon sechsundzwanzig und für sie, die erst acht war, ein Erwachsener und somit eine Respektsperson, die man nicht kratzen durfte. Dafür hat sie ihm mehrfach leere Blechdosen ans Auto gehängt; und Krückh erinnert sich bis heute daran, wie sehr das schepperte. Für ihn war sie damals ein ungezogenes Nachbarsgör, welches er von Herzen zum Teufel wünschte. Doch das war damals…

Als die Räuber sie in den Sack steckten, rutschte ihr Rock hoch; und er sah, daß sie außerordentlich schöne Beine hat. Dies machte auf ihn einen sehr starken Eindruck, der all die Erinnerungen, die von dem kratzenden und Blechbüchsen ans Auto hängenden Nachbarsgör in irgendwelchen Winkeln seines Gedächtnisses noch übrig waren, weitgehend überdeckte.

Während Biana gefesselt und in den Sack gesteckt wurde, hielt ein sehr kleiner und sehr hagerer Räuber ein großes Messer auf Krückh gerichtet. Richtig komisch sah es aus, wie er so breitbeinig dastand und offenbar der Meinung war, er hielte Krückh mit seinem Messer in Schach. Krückh fand, daß es keinerlei Probleme bereiten würde, dem Räuber das Messer zu entwinden und ihn mitsamt seiner Kollegen zu überwältigen. Denn er war Fachmann für asiatischen Kampfsport; und großes Vergnügen bereitete es ihm, sich vorzustellen, mit was für Griffen man die zahllosen Blößen, welche die ungeübten Räuber sich gaben, nutzen könnte, um die Situation zu seinen Gunsten zu entscheiden. Nur war er sich nicht sicher, ob ein Nutzen dieser Blößen tatsächlich zu seinen Gunsten wäre und ob er durch ein solches Eingreifen nicht den Gang der Ereignisse von einer vielleicht höchstlich interessanter Richtung ablenken würde. Und viel mehr noch als die Blößen, die der Räuber sich gab, beschäftigten ihn die entblößten Beine seiner Begleiterin. Da sie selbst, als die Hauptbetroffene, an dem Geschehen offenbar keinen sonderlichen Anstoß nahm, beschloß er, ein Eingreifen so lange als möglich hinauszuschieben oder gar, wenn es sich machen läßt, ganz zu unterlassen. Die Räuber waren so ungeschickt, daß er die Lage voll unter Kontrolle hatte und frei disponieren konnte.

Zwei Räuber, die sehr klein und sehr dick waren und aussahen wie Zwillinge, hielten den Sackrand oben zusammen, während ein dritter, der sehr lang und sehr dünn war, ihn mit einer riesigen Schnur zuband. Kaum war er damit fertig, wie aus dem Sacke Bianas kecke Stimme tönte: „Und wieso habt ihr mich nicht geknebelt?“
Wieder mußte Krückh an das sommersprossige Gör denken, das Blechbüchsen an Autos hängte und sonstigen Schabernack trieb; die Beine hatten sie offenbar nicht ganz verdrängt. Doch nun war sie ihm plötzlich sympathisch.
Die Räuber antworteten nicht und machten nachdenkliche Gesichter.
„Warum willst du, daß man dich knebelt?“ fragte Krückh, da die Räuber schwiegen.
„Damit ich nicht schreie,“ antwortete Biana
„Dann schrei einfach nicht, wenn du nicht willst, daß du schreist,“ riet Krückh.
„Blödmann!“ tönte es aus dem Sack „Du bist noch immer der gleiche Esel wie damals, als ich dir Blechbüchsen ans Auto hängte…“
„Was hat die Frage, ob man dich knebeln soll, mit Blechbüchsen zu tun?“
„Weiß ich auch nicht…“ antwortete Biana. „Aber blöd bist du trotzdem. Ist doch Blödsinn, jemanden in einem Sack davonzutragen, ohne ihn geknebelt zu haben; vor allem, wenn die Betreffende so unberechenbar ist wie ich.“
„Unberechenbar bist du sicher,“ bestätigte Krückh.
„Stell dir vor, die gehen, nichts Böses ahnend, den Sack über den Schultern, durch die Fußgängerzone, und ich fang plötzlich an zu schreien…“
„Das könnte in der Tat peinlich werden,“ pflichtete Krückh bei.
„Eben…“ sagte Biana.

Der Räuber mit dem Messer wandte sich um zu seinen Kameraden. „Ihr müßt sie knebeln,“ sagte er. „Sonst kann’s Ärger geben.“
Krückh hätte den unaufmerksamen Räuber nun auch ohne jeden asiatischen Kampfsport unschädlich machen können. Doch er blieb ungerührt stehen und sagte nur „Vergiß nicht, mich in Schach zu halten!“
Der Räuber wandte sich wieder Krückh zu und umklammerte sein Messer mit beiden Händen.
„Macht den Sack auf und knebelt sie!“ befahl er grimmig.
„Wo ich doch so schöne Knoten gemacht habe!“ protestierte der Räuber mit der Schnur.
„Wir müssen den Sack wieder aufmachen!“ beharrte der kurze Dicke. „Oder willst du, daß sie unterwegs schreit?“
„Nein,“ antwortete der mit der Schnur. „Das will ich bei Gott nicht. Aber ich habe so schöne und so feste Knoten gemacht, daß ich sie nicht wieder aufkriege.“
„Schneidet sie doch einfach durch,“ riet Krückh.
„Misch du dich da nicht ein,“ fuhr der mit dem Messer ihn an.
„In dem Sack steckt immerhin meine Begleiterin,“ verteidigte sich Krückh.
„Jetzt ist sie unsere Begleiterin,“ antwortete der lange Dünne.
„Originelle Art, jemanden zu begleiten,“ sagte Krückh. „Einfach in einen Sack stecken…“
„Wollt ihr mich nun knebeln oder nicht?“ tönte es aus dem Sack
„Sie kriegen den Sack nicht auf,“ sagte Krückh.
„Sie sollen die Schnur durchschneiden und anschließend eine neue nehmen!“ riet Biana.
„Wir haben keine Schnur mehr,“ sagte zerknirscht der Räuber, der den Sack zugebunden.
„Nehmt einfach die Stricke, mit denen ihr mich gefesselt habt…“
„Wenn wir dich nicht fesseln, nimmst du den Knebel wieder ab. Oder noch schlimmer…“ winkte der kurze Dicke ab.
„Wenn ich meine Strümpfe ausziehe, könnt ihr mich mit meinen Strümpfen fesseln,“ sagte Biana. „Strümpfe sind zum Fesseln geeignet. Auch knebeln kann man einen damit.“
„Du kennst dich ja gut aus…“ wunderte sich Krückh.
„Misch du dich nicht ein!“ tönte es aus dem Sack.
„Wir machen den Sack wieder auf!,“ sagte entschlossen der Räuber an der Schnur. „Hat jemand ein Messer dabei?“

Die Räuber suchten in ihren Taschen und schüttelten nacheinander die Köpfe. „Meines kann ich nicht entbehren,“ sagte der Räuber, welcher glaubte, er hielte Krückh in Schach.
„Nehmt einfach meins,“ sagte Krückh, griff flugs in die Tasche und warf dem Räuber, der den Sack zugebunden, sein schweizerisches Qualitätstaschenmesser zu.
„Danke!“ antwortete der Räuber. Ein rascher Schnitt, und Biana war wieder im Freien. Die Räuber lösten ihre Fesseln; sie rieb sich kurz die Handgelenke, zog dann ungeniert den Rock hoch, löste die Strapse und zog, kokett und sehr gekonnt, ihre Strümpfe aus. Dann ließ sie sich willig wieder fesseln. Die Füße wurden mit einem Strick zusammengebunden, die Hände mit einem Strumpf; und mit dem zweiten Strumpf wurde sie geknebelt. Krückh sah, daß die Räuber auch vom Knebeln keine Ahnung haben und daß der Knebel keineswegs geeignet war, jemanden am Schreien zu hindern. Doch da Biana selbst keine Einwände hatte, mischte er sich nicht ein.

Sie steckten sie dann wieder in den Sack; und der Räuber, der so schöne Knoten machen konnte, band den Sack zu.
„Was ist nun mit ihm?“ fragte der Hagere mit dem Messer und deutete auf Krückh.
„Wenn ihr wollt, trag ich den Sack,“ schlug Krückh vor. „Mir scheint, als sei ich kräftiger als ihr.“
Die Räuber hatten nichts dagegen einzuwenden. Krückh warf den Sack mit Biana auf seine Schultern; und alsbald schon sehen wir ihn mitsamt den Räubern unseren Blicken entschwinden.

Was dann weiter geschah und was das alles überhaupt zu bedeuten hat, wissen wir nicht. Schon merkwürdig, das ganze…