"Der Kuß der Muse" Eine Geschichte von Werner Friebel

„Der Kuß der Muse“
Eine Geschichte von Werner Friebel

Anna war eigentlich keine Frau, die ein Model-Agent in seinen Katalog aufnehmen würde. Dazu war ihr Gesicht zu flächig, breit, ihre Nase zu groß und ihre Figur etwas zu barock.

Aber unter ihren langen, kastanienfarbenen Locken lag dieses dunkelgrüne Augenpaar, das mich in sie hineinzog wie einen erhitzten Bergsteiger der klare See am Wegrand.

Und ihr volllippiger Mund erregte meine Phantasien in unzähligen Nächten; sogar wenn, wie selten auch immer, ein anderes Weibchen in mein Bett geschlüpft war.

Am meisten erstaunt aber war ich über Anna’s Art, sich zu bewegen: Trotz ihrer erwähnten Fülle hatte ihr Gang die laszive Geschmeidigkeit einer Striptänzerin, ihre Arm- und Kopfbewegungen waren wie bei einer ausgeklügelten Choreographie fein aufeinander abgestimmt und zogen immer wieder meine Aufmerksamkeit wie ein seltenes Naturschauspiel an.

Meine Faszination war ihr sicher nicht verborgen geblieben, auch wenn ich mir alle Mühe gab, sie nur durch den Vorhang der Verstohlenheit anzudeuten.

***

Während meines Musikstudiums in dieser Stadt hatte ich öfter in dem Lokal, das Anna zusammen mit ihrem damaligen Partner betrieb, am Klavier gesessen, um mir ein paar Mark zu verdienen. Mehrmals hatte ich dafür schon lukrativere Jobs abgelehnt. Was ich Anna natürlich nicht sagte.

Denn außer der geringen Gage profitierte ich viel mehr von der Inspiration, die Anna auf mein Spiel ausübte.

Mein Anschlag wurde sicher und weich, meine Improvisationen in sich rund, wenn ich ihren Blick spürte, ihren vorbeiwehenden Geruch oder, in seltenen Fällen, ihren Händedruck auf meiner Schulter spürte.

Vor Allem aber verdankte ich dieser Inspiration einige Kompositionen, die ich ihr auch an die Ohren schmeichelete.

„Ah, das ist aber hübsch! Kenn‘ ich ja gar nicht, wie heißt das denn?“, hatte sie mich öfter gefragt, worauf ich ihr zwar den jeweiligen Titel nannte, die geheime Ursprungs-Beziehung aber nicht.

Am besten schien ihr „These alluring eyes“ zu gefallen, das ich wegen der harmonischen Spannung und der klaren, eingängigen Melodiebögen für mein stärkstes Stück hielt. Auch wenn der Kitsch mit einer leisen Drohung am Gehörgang lauerte.

So verbrachte ich Monate in meiner ungestillten Begierde und feilte immer wieder an weiteren Feinheiten ihrer Stücke, um ihr damit, wenigstens heimlich, nahe zu sein und Liebesgaben zu erweisen.

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Als meine Refendarzeit begann, wurde ich an zwei weiter entfernte Orte versetzt, und hatte danach das Glück, an einem musischen Gymnasium als Studienrat unterzukommen und meine Vita schien sich in geordntete Bahnen zu bewegen.

Ich war auch mehrmals in Versuchung, einen Familienstand zu gründen. Doch immer wieder fiel Anna’s Schatten über meine Versuche emotionaler Annäherung an eine der Frauen, die mich wegen meiner Händebehendigkeit bewunderten und mir recht offensichtlich mit der Einräumung gewisser Chancen eine Komplettmöblierung anboten.

Ein paar unwichtige Bettgeschichten, Abende beim Italiener, Party-Smalltalk und kreative Arbeiten als Begleit- und Studiopianist verschiedener Jazz-Combos (in denen ich Anna’s Themen zum Gefallen der anderen Musiker einbringen konnte) sind mir aus diesen Jahren in Erinnerung geblieben.

***

Irgendwannn hat mich der Zufallsgenerator des Lebens ausgerechnet wieder in die Stadt, in der Anna ihr Lokal betrieben hatte, verschlagen – als Co-Rektor des dortigen musischen Gymnasiums. Also bezog ich Wohnung und ganz vorsichtig wieder ein wenig Hoffnung – ließ doch meine Stellung, mein Junggesellendasein und meine Bereitschaft, mich Anna endlich zu offenbaren, ein Mütchen keimen.

Obwohl in meinen Gedanken längst wieder ganz bei Anna, mied ich doch wochenlang ihre Kneipe (gab’s die überhaupt noch?) oder ein Telefonat. Der Zustand von Unsicherheit und Vorfreude hielt mich öfter schlaflos, fügte aber dieser Zeit der Einarbeitung in einen neuen Lebensabschnitt eine wohltönende Note hinzu.

***

Nachdem ich in meinem neuen Aufgabenbereich etwas Sicherheit erlangt hatte, wuchs mein Verlangen, Anna zu sehen und mich ihr zu offenbaren.

Eines Abends also kleidete ich mich lässig wie vor vielen Jahren, spielte mich warm auf der Tastatur und schlenderte, mit der Gelassenheit mehrerer Cognacs im Hirn, zu Anna’s Lokal. Das Herzklopfen auf diesem so lange gescheuten Weg blieb aus, obwohl es, wäre ich bei klarem Verstand gewesen, für ein ganzes Menschenleben ausgereicht haben sollte.

Als ich vor der Tür des Lokals stand, über dem immer noch in Leuchtbuchstaben „ANNA’S“ flimmerte, spürte ich aufgrund der nachlassenden Wirkung des Cognacs diesen medizinisch noch ungeklärten, plötzlich autretenden Druck in der Körpermitte und zögerte einen Moment, die einst und auch jetzt wieder so aufregende Messing-Türklinke zu drücken.

Das Problem erledigte sich aber von allein, als die Tür von zwei Gästen des Lokals von innen her aufgedrückt wurde, ich einen kleinen Rempler eines der Beiden offensichtlich Angetrunkenen abbekam „Tschuldigung!“ und freien Blick ins Lokal hatte.

Anna stand mit einem Serviertablett an einem Tisch, smalltalkte wie eh, lachte und glitt dann genau wie vor vielen Jahren mit gleicher lasziver Lässigkeit in ihr Thekenreich zurück.

Ich betrat das Lokal, hatte nur wenige Blicke für die Gäste an den Tischen, wohl aber ein aufmerksames Ohr für die wunderbar melancholischen Töne, die ein junger Mann aus dem immer noch am selben Platz stehenden Klavier zauberte.

Ich musterte ihn im Vorübergehen, verstohlen, eben darum aber umso genauer und mir fiel sofort auf, daß die Sensibilität seines Spiels mit seiner Erscheinung übereinstimmte. Ein junger Farbiger, nicht zu dunkel, Mischling – und Schönling. Der Blues seiner Töne spiegelte sich in seinem Gesicht wieder, die zartgliedrigen Hände hätten bis auf die Farbe meine eigenen sein können, und seine Augen wanderten Anna immer wieder hinterher. Verdammt offensichtlich.

Mir schien, daß Anna die Jahre nichts angetan hätten – so genau entsprach ihre Erscheinung, ihr Gesicht, dem Bild meiner Erinnerung.

Sie erkannte mich, als ich an der Theke Platz nahm, nicht sofort, „Was hätten Sie gern?“. Doch das hatte ich auch nicht erwartet, da im Gegensatz zu ihr mich die Zeit äußerlich verändert hatte. Eine Brille war nötig geworden und die Grautönung meiner Haare wies auf die Überschreitung der statistischen Lebensmitte hin.

„Ein Pils, bitte!“

Und als sie es vor mich hinstellte: „Mein Gott, Markus! Dich gibt’s auch noch. Was machst’n jetzt, verdammt lang nicht geseh’n…“ und sie wies ihre Bedienung an, die nur halbvolle Kneipe vorübergehend allein zu schmeißen.

Anna und ich unterhielten uns über die Dinge, die uns beiden in den letzten Jahren so an die Köpfe und Herzen gestoßen waren – und bei alledem traute ich mich nicht, mit der Wahrheit herauszurücken, daß ich sie liebte und diese Musik damals für sie geschrieben hatte und daß ich eigentlich gekommen war, um ihr all das zu sagen und das GANZE DING mit ihr wollte…

Sie erzählte mir, daß sie in all den Jahren immer wieder Musikstudenten am Klavier hatte, von ihrem damaligen Partner längst getrennt lebe, bald mit der Kneipe aufhören wolle und zu einer griechischen Freundin, die früher im Lokal bedient hatte, auswandern werde.

Der junge Farbige am Klavier spielte wunderbar, er untermalte unser Gespräch mit seiner Lyrik, zauberte Standards in Vollendung und ließes sich nicht nehmen, zweimal eine Komposition für Anna anzusagen.

Sie wandte beide Mal den Kopf zu ihm, lächelte ihn an und schien mir dabei so gelassen, wie nur eine Muse sein kann, die sich ihrer Wirkung auf den Künstler sicher ist.

Als der Pianist eine Pause machte, setzte er sich zu uns an die Theke. Anna stellte uns lächelnd einander vor. Er heiße André, stamme aus der Dominikanischen Republik, studiere am selben Konservatorium Musik wie ich damals und er wohne hier bei ihr.

Dann bat Anna mich, auch ein paar Takte zum Besten zu geben, „These alluring eyes“ wenigstens.

Ich war sehr überrascht, daß sie sich noch an den Titel erinnerte, freute mich aber über die Einladung und nahm nach einem kurzem Blick des Einverständnisnehmens mit André am Klavier Platz.

Eine Aufforderung aus Anna’s Bergseen zerriss den gordischen Knoten der jahrelangen Unaufrichtigkeit und bar jeder Nervosität, hörte ich mich selbst wie ein fremder Moderator zu den Gästen sagen:

„Hallo zusammen! Ich freue mich, nach vielen Jahren wieder mal an diesem Klavier zu sitzen und für Sie und Anna ein paar Stücke spielen zu dürfen, die ich vor langer Zeit für die Chefin des Hauses komponiert hatte.“

Endlich war es heraus, das Teufelsteil! – und während des kurzen Beifalls der wenigen noch verbliebenen Gäste entging mir nicht, daß Anna’s Gesicht sich in ein Relief verwandelt hatte und ihre Augen starr auf irgendeinen Punkt hinter mir an der Wand gerichtet waren.

Dann begann ich zu spielen, länger als eine halbe Stunde die Stücke für Anna, ineinander als Potpourrie verwoben, und versank in sie, in meine Gefühlswelt, die sich aus ihrer Vergangenheit in das Jetzt übertrug.

Es gab freundlichen Applaus und Zugaberufe, worauf ich André mit ans Klavier bat, um noch einige Jazz-Standards vierhändig zu spielen. Wir hatten sofort die Übereinstimmung im Groove, lächelten uns öfter mal an und ich empfand Spaß beim Spiel wie seit Langem nicht mehr.

Danach hatten André und ich an der Theke Gelegenheit, um bei den von den Gästen spendierten Drinks über Musik und das Leben halt so oder haltlos zu quatschen.

Anna nahm zwischendurch den restlichen Gästen die Zeche ab und schloß hinter dem Letzten die Lokaltür.

Ob ich noch auf ein Glas, auf die alten Zeiten, mit nach oben kommen wolle, fragte Anna.

In ihrem über dem Lokal liegenden Wohnzimmer goß sie uns drei Gläser Wein ein und verschwand für einige Minuten ins Bad.

André und ich prosteten uns auf das gelungende Spiel zu „Let’s swing together again!“ und er lehnte sich lässig in seinen Sessel zurück, während ich noch etwas steif auf dem Sofa saß und den geschmackvoll, in fernöstlichem Stil gehaltenen Raum betrachtete.

Als Anna zurückkam, trug sie einen hellen Seiden-Kimono, setze sich neben mich, legte mir eine Hand auf meinen Schenkel und sagte, wie mir vorkam, mit leicht spöttischem Tonfall:

„Mark, ich wußte schon immer, daß du diese Stücke für mich geschrieben hattest. Aber ich habe immer darauf gewartet, daß du den Mut aufbringst, es mir zu sagen.“

Bevor ich eine, wahrscheinlich sehr verlegene und verworrene Antwort herausbringen konnte, küsste sie mich kurz auf den Mund und drückte mich sanft in Schräglage. Dann öffnete sie lässig meine Jeans und zog sie etwas nach unten, ihren Blick in meinen verhakt.

Sie begann, mein steifes Glied mit ihren Händen sanft zu massieren und umfasste es erst mit ihren warmen kräftigen Lippen, als André ihr den Kimono hochschob und mit einem sanften Rhythmus von hinten in sie eindrang.

Ich schloß benommen die Augen und ließ mich in den Groove hineingleiten, den André durch Anna’s Körper und Lippen auf mich übertrug.

Nach einem zeitlosen Gleitflug begann Anna’s Körper sich wie eine Schlange zu winden, sie bäumte sich auf „Ja, ja, jetzt!“ und biss dann sanft in meinen Schwanz. André und ich explodierten gleichzeitig.

Dann blieben wir, ineinander verknäult, lange wortlos liegen. Ich genoß es, Anna’s warmen, weichen Körper an meinem zu spüren, die Sehnsucht all der Jahre erfüllt zu bekommen, bis Anna sich aus unser beider Umklammerung löste, mich, wie bei einem freundschaftlichen Abschied, auf die Wangen küsste und dann in ihr Schlaftimmer verschwand.

André und ich sahen uns einen Moment etwas verlegen an, dann lächelte er, prostete mir mit dem restlichen Schluck Wein zu „Good groove again!“ und folgte Anna in ihr Zimmer.

Etwas ratlos brachte ich meine Kleider in Ordnung, zog die CD mit Anna’s Stücken nebst Widmung aus der Jackentasche, legte sie auf den Tisch und bewegte mich wie in Trance zum nächsten Taxistand, da meine Knie zu weich waren, um den ganzen Heimweg mein immer noch vibrierendes Herz zu tragen.

***

In den folgenden Wochen lief ich wie auf einer Schmalspurbahn durch meine beruflichen Verpflichtungen, rein mechanisch, Gedanken nur bei Anna und André. Ich traute mich nicht in ihre Bar oder sie anzurufen – eine Mischung aus Glück, Scham und Hoffnung ließ mich ihren Anruf erwarten.

Doch nach bald zwei Monaten, nachdem sich meine Erwartungshaltung nicht erfüllte, kramte ich aus der Zauberkiste der Gefühle einen Rest Mut und ging in die Kneipe.

Über dem Eingang flimmerte „Piano-Bar“ und als ich das Lokal betrat, sah und hörte ich André am Klavier.

An der Theke wurde ich von einer jungen schwarzen Schönheit bedient, und als André mich sah, unterbrach er sein Spiel und setzte sich zu mir.

„Anna had gone to Greece!“, war seine lächelnde Begrüßung. Dann erzählte er mir, daß sie drei Tage nach unserem Zusammensein ihre Sachen gepackt habe und mit ihrem Kleinbus abgereist sei, um auf irgendeiner griechischen Insel eine Musikkneipe zu eröffnen. Er hätte weder Telefonnummer noch Adresse von ihr, wohl aber meine von Anna zurückgelassene CD.

Nachdem er mich noch aufgeklärt hatte, daß die kleine Schwarze seine Schwester und jetzt Pächterin des Lokals sei, setzten wir uns ans Klavier, warfen uns vierhändig den Blues zu und betranken uns danach fürchterlich.

***

Das liegt nun auch schon wieder über vier Jahre zurück, mit André bin ich immer noch gut befreundet, wir spielen auch öfter zusammen.

Seit kurzem bin ich mit einer Lehrerkollegin liiert, mit der ich mich gut verstehe. Vielleicht liebt sie mich sogar.

Aber jedes Jahr mache ich für drei Wochen allein Urlaub auf verschiedenen griechischen Inseln. Und davon gibt’s verdammt viele…

Copyright by Werner Friebel, Februar 2000

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