"Der Einbruch" von Beate-Helena Wehrle

Nachdem sie einmal seinen Geruch eingeatmet und in ihrer Erinnerung verankert hatte, wußte sie, daß sie ihre Ruhe nicht eher wieder finden würde, bis sie erneut einen tiefen Zug dieses betörenden Duftes in sich aufgenommen hatte. Unermüdlich lief sie seither in ihrer freien Zeit durch die Stadt, katzenhaft gespannt in der Erwartung, ihn plötzlich irgendwo aufspüren zu können. Die Entscheidung, wie sie ihn dann in ihre Gewalt bringen und ihrer erregenden Erinnerung neue Nahrung geben würde, wollte sie ganz der Situation überlassen, bei deren bloßem Gedanken ihr ein zarter Schauer über den Rücken lief.

Vor acht Wochen hatte sie zum ersten Mal im Gedränge der U-Bahn neben ihm gestanden. Es war ein schwülheißer Spätsommerabend und sie war nach Büroschluß auf dem Weg nach Hause. Zunächst hatte sie ihn gar nicht wahrgenommen. Wie meist während ihrer Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln überließ sie sich auch an diesem Abend ausgedehnten Phantasien über Leben und Leidenschaften einiger ausgewählter Mitfahrender, die sie eindringlich beobachtete.

Den blonden schüchternen Jungen mit dem zarten Bartflaum, der ihr schräg gegenüber saß, sah sie Pickel vor dem Spiegel ausdrücken und im Dunkeln masturbieren, die ältere Dame neben ihm das Leben und den kürzlich verlorenen Ehemann gleichermaßen verfluchen und beweinen.

In der Regel entwickelten sich solche Gedankenausflüge bei ihr leichtfüßig und mühelos. An diesem späten Nachmittag jedoch schienen ihre Phantasieflüsse seltsam gebremst. Sie fühlte sich ungewöhnlich unruhig und zerstreut. Irritiert schloß sie die Augen.

Nach einem kurzen Moment der Konzentration wußte sie, was sie abgelenkt hatte. Sie nahm neben sich den betörenden Geruch warmer Haut wahr: würzig mit einem Hauch von Süße wehte es zu ihr hinüber. Sie lächelte und war gerade dabei, sich genüßlich in die weiche Geschmacksdecke einzuhüllen, als deren Quelle schon wieder zu versiegen begann. Irritiert öffnete sie die Augen und sah einen kräftigen blonden Mann Mitte Zwanzig die U-Bahn verlassen. Sie blieb zurück mit einem alles einnehmenden Gefühl des Verlustes.

Unvermittelt versuchte sie, die kurz zuvor unterbrochenen Gedankenspiele nochmals aufzugreifen. Diese erschienen ihr plötzlich gänzlich schal. Die ältere Frau blickte sie verständnislos an, als sie ihr unvermittelt und geradezu aggressiv zurief, daß es gewiß keine böse Berechnung von ihm gewesen sei, zuerst zu gehen und sie allein zurückzulassen.

Seither hatte sie mehrere Male vergeblich versucht herauszufinden, wo er wohnte. Nachdem sie ihn einige Male in der U-Bahn wiederentdeckt hatte, konnte sie ihm zwar ein Stück folgen, als er ausstieg, verlor ihn dann aber immer in demselben Stadtviertel wieder aus den Augen.

Fast jede Nacht träumte sie von ihm. Zielsicher fand sie dann das Fläschchen mit seinem Duft aus einer unüberschaubaren Vielfalt an Essenzen, die auf langen Regalen aufgereiht standen. Wenn sie das richtige Flakon öffnete und daran schnupperte, wurde sie von einer solch heftigen Erregung überwältigt, daß sie jedes Mal aufwachte und sich den Rest der Nacht schlaflos im Bett hin und her wälzte. Bei Tag war es ihr noch nie gelungen, den Duft noch einmal heraufzubeschwören.

Sie mußte ihn einfach wiederfinden, dessen war sie sich sicher. Die Nasenflügel leicht gebläht, streifte sie Tag für Tag nach Arbeitsschluß in schwarzer Lederjacke, kurzem Rock und Turnschuhen durch Cafés und Kneipen, Kaufhäuser und Geschäfte. Buchhalterisch genau durchkämmte sie die gesamte Gegend, ohne dabei mit jemandem zu sprechen oder irgendwo stehen zu bleiben.

Nachdem sie mehrere Wochen ihre gesamte freie Zeit in dem etwas heruntergekommenen Stadtteil verbracht hatte, entdeckte sie ihn schließlich in einem kleinem Zeitschriftengeschäft. Er war gerade dabei, Zigaretten und ein Stadtmagazin in seine Jackentasche zu stecken, als sie ihn sah. Er verließ den kleinen Laden, ohne sich umzusehen. Unauffällig folgte sie ihm, bis er in einem großen Häuserblock verschwand.

Sie setzte sich auf eine Bank in dem Park gegenüber des Hauses und fixierte die große Fensterfront des Mietshauses. Obwohl sie dicht neben einem überquellenden, stinkendem Mülleimer saß, fühlte sie sich zum ersten Mal seit ihrer Begegnung in der U-Bahn wieder ruhig und gelassen.

Keine fünf Kilometer von mir entfernt wohnt er, sang sie leise in sich hinein. Am Abend, nachdem sie ihn aufgespürt hatte, blieb sie lächelnd auf der Bank sitzen, bis sie zu frösteln begann. Er hatte das Haus nicht mehr verlassen, aber das beunruhigte sie nicht weiter. Sie glaubte ja nun zu wissen, wo sie ihn jederzeit finden konnte. Bei diesem Gedanken begann sie auf dem Nachhauseweg zu hüpfen. Schnell wurde ihr dabei warm.

Der folgende Tag wurde schwer für sie. Da sie länger arbeiten mußte, konnte sie erst am späten Abend ihre Position auf der Parkbank einnehmen. Sie sah ihn das Haus weder betreten noch verlassen. Vielleicht war er nur zu Besuch hierher gekommen, und sie hatte im Rausch der Gefühle nicht lange genug ausgeharrt, um es zu bemerken, schoß ihr durch den Kopf. Je länger sie vergeblich nach ihm Ausschau hielt, um so schwächer fühlte sie sich. Als sie an diesem Tag weit nach Mitternacht zitternd vor Kälte und Enttäuschung nach Hause kam, verhalf ihr auch das Nachtprogramm im Fernsehen nicht zum Schlaf.

Sie fühlte sich so elend, daß sie am folgenden Tag schon am frühen Nachmittag das Büro verließ. Erst als sie in der warmen Mittagssonne ihre Position auf der Bank bezogen hatte, fühlte sie sich besser. Sie aß das Brötchen, das sie in der Kantine gekauft hatte und summte leise vor sich hin.

Mütter mit Kindern kamen mit dicken Einkaufstüten nach Hause, ein älterer Mann machte hinkend Gehversuche, indem er den immer gleichen Weg vor dem Haus gegenüber Stück um Stück verlängerte. In sich versunken, hatte sie beinahe vergessen, warum sie hier saß, als er plötzlich um die Ecke bog, seinen Schlüssel auspackte und hinter der Haustür verschwand.

Plötzlich wußte sie, was sie zu tun hatte: sie mußte in das Haus gelangen. Schnell verließ sie ihren Beobachtungsposten, überquerte die Straße und stellte sich an die Eingangstür. Michels, Koch, Hammerschmid las sie gerade auf den Namensschildern, als die Haustür sich öffnete und eine Frau mittleren Alters das Haus verließ. Sie nickte ihr zu und schlüpfte in den Hausflur.

Die schwarz-weiß gemusterten Steintreppen und die dunkelbeige Tapete verströmten eine muffige Kälte. Sie zog ihr Sweatshirt über und legte ihr Ohr vorsichtig an die Tür der linken Parterrewohnung „Hammerschmid“. Nichts war dort zu hören, auch nicht rechts bei „Koch“ und eine Etage höher links. An der rechten Tür jedoch hörte sie leise Radiomusik. Ob er „Pfeiffer“ war? Schnell huschte sie die Treppen hinunter, verließ das Haus und setzte sich wieder auf ihre Bank.

Als es dunkel wurde, sah sie in der ersten Etage eine Silhouette am Fenster vorbeigleiten. Wie gebannt starrte sie auf die beiden beleuchteten Fenster, und als sie kurz darauf dort erneut jemanden vorbeigehen sah, war sie sich sicher, daß er es war. Er hieß Pfeiffer und wohnte in der ersten Etage dieses Hauses. In dieser Nacht beobachtete sie die beiden Fenster, bis das Licht gelöscht wurde. Gute Nacht, flüsterte sie dann und lief schnell nach Hause.

Es war kurz nach Mitternacht, als sie die Tür ihres Appartements aufschloß. Bevor sie den Wecker auf sechs stellte, hörte sie den Anrufbeantworter ab. Ja, morgen würde sie ihre Mutter beruhigen, daß es ihr gut gehe, dachte sie und schlief sofort ein.

Um sieben Uhr saß sie wieder auf der Bank. Das Holz war feucht vom Tau und ihre Hose fühlte sich klamm an. Der Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt, und die Vögel zwitscherten laut. Es war Freitagmorgen und obwohl sie nur wenig geschlafen hatte, war sie wach und gespannt. In einer Thermoskanne hatte sie heißen Kaffee mit Milch und Zucker, in ihrer Tasche das Werkzeug mitgebracht. Zur Arbeit würde sie heute nicht gehen.

Kurz nach Sieben verließen ein Mann und eine Frau das Haus, kurz vor Acht kam er heraus. Er schien in Eile zu sein und war gleich um die Ecke verschwunden.

Sie überquerte die Straße und positionierte sich an der Haustür. Als diese von innen geöffnet wurde, gab sie vor, gerade geklingelt zu haben und lief in das dunkle Treppenhaus. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß niemand in der Nähe war, ging sie leise die Treppe hinauf in die erste Etage, wo sie die Tür geräuschlos mit einem Schraubenzieher öffnete.

Jetzt stand sie in seiner Wohnung und seinem Flur, das roch sie sofort. Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Eine plötzliche Wärme durchflutete sie, als sie durch die kleine Wohnung ging. In der Küche stand das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch, im Wohnzimmer lagen einige Zeitschriften auf dem Boden, daneben ein halbvoller Aschenbecher, eine leere Weinflasche und ein Glas. Die Sonne spiegelte sich in dem Glastisch.

Dann öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer. Hier nahm sie den Geruch, von dem sie so lange und eindringlich geträumt hatte, besonders intensiv wahr. Wie hypnotisiert ging sie auf das breite Bett zu, zog sich aus und legte sich nackt unter die dünne Decke.

Sie fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst erwachte, als sie spürte, daß sich jemand neben sie legte. Fest hielt sie die Augen geschlossen und erinnerte sich an die erste Begegnung in der U-Bahn. Wie hatte sie sich danach gesehnt, ihn ganz zu erschnuppern. Langsam begann sie ihn zu streicheln. Als sie ihre Umarmung, wie ihr schien, Stunden später lösten, fragte er sie nach ihrem Namen. Monika, flüsterte sie und öffnete erstmals ihre Augen zu kleinen Schlitzen.

Im Zimmer war es dunkel. Sie hörte leise einen Wecker ticken. Ein bißchen bedauerte sie, ihre Anonymität verloren zu haben. Sie atmete tief durch und versuchte sich vorzustellen, das Fenster des Zimmers noch einmal von der Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu beobachten.